Hatz in seelischen Ausnahmezustand
Fesselnde Woyzeck-Interpretation in der Würzburger Werkstattbühne
Ein Mensch, gefangen in sich, ein armer Mensch, ein einfacher Soldat,
ein Nur-Noch-Erbsenfresser, ein gebeutelter, gedemütigter Mensch
Selbstbeschränktheit statt Entfaltung, gefährliche Verinnerlichung,
Wahnanwandlungen in dem beunruhigenden Gefühl, die ganze Welt hat sich
gegen einen verschworen.
Momente klarer, vernünftiger Einsichten in das Absurde, das Kranke des
Menschseins konkurrieren mit fixen Ideen, aufgedeckte Wahrheit wird
aufgesogen von schleichendem Realitätsverlust. Da ist einer, der die Abgründigkeit
erkennt, ohne Chance, dem eigenen Abgrund zu entrinnen. In einer auf Äußerste
verdichteten Inszenierung, die sich stets dann von Georg Büchners Vorlage
entfernt, wenn Hier und Heute in die Bühnenwelt hineinzuholen ist,
gelingt Regisseur Manfred Plagens und Hauptdarsteller Alexander Blühm in
der Würzburger Werkstattbühne eine fesselnde Interpretation des Woyzeck.
Reduzierte Gestik statt Rhetorik, verhaltenes Mienenspiel, unaufdringliche
Andeutungen statt Radikalkritik. In den stärksten Momenten von Plagens
Inszenierung steht Blühm in unheimlicher Ruhe einfach nur da; blickt;
allein die Finger zucken nervös. Woyzecks äußere Ruhe, seine
Versteinerung, Vereisung, kontrastieren zu dem Sturm, der in ihm
entfesselt wird.
Ausgerechnet seine Jäger, allen voran sein Vorgesetzter, der Hauptmann
(Wolfgang Stenglin gefällt in seiner Ausdeutung der Hauptmann-Figur als
Pseudophilanthrop), werfen ihm Verhetztheit vor, verstärken seine
selbstzerstörerischen Skrupel. Ausgerechnet die, die vorgeben,
Wissenschaft zu betreiben zum Wohle der Menschheit, ergötzen sich an der
seelischen Krise ihres entwürdigten Versuchsobjekts, treiben einen, der
sich nicht einmal dagegen wehren kann, auf Befehl mit den Ohren zu zucken,
immer weiter in den psychischen Ausnahmezustand hinein. Irgendwann gibt es
keine Möglichkeit mehr, zu entfliehen. Die Gitterstäbe sind zu eng und
zu stark. Der endogene wie der exogene Wahnsinn werden zu nicht mehr bewältigbaren,
Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auslösenden Triebfaktoren.
Und dann die Geliebte, ebenfalls eine Zeitgeistige, entflammt von
allem, was mehr Schein ist als Sein. Und doch, auch sie ist, dies stellt
Carolin Wörz als mal leichtfertige Dirne, dann wieder moralisch
gebeutelte Jesusanhängerin mit Sehnsucht nach höheren Idealen
eindrucksvoll heraus, lediglich Opfer. Wenn eine nichts zu erwarten hat,
wenn eine nicht weiß, was morgen kommt, wie sollte sie dann nicht
abfahren auf einen stattlichen Mann, der, wenn auch keine Liebe,
Machtzuwachs und Bedeutungsanreicherung verheißt.
Trotz Anachronismen wie Diktiergerät, Kunststoffurinröhrchen und
Glamour-Gürtelschnalle: nirgends ein gewaltsames Hereinholen gefährlicher
jetziger Zeitumstände, und doch ist zwischen den einzelnen Sequenzen
herauszuspüren hier geht es um mehr als um eine lediglich entfernte
Verwandtschaft zwischen sozialen Entwicklungen zu Büchners Zeiten und
sozialreformerischen Bestrebungen heute und hier. Woyzeck ist weder ein
bemerkenswerter historischer noch ein interessanter künstlerischer Fall,
Woyzeck ist längst zurückgekehrt, ist wieder oder: noch immer aktuell.
Denn abermals werden Menschen entrechtet und Opfer globalen Flexibilitätswahns
- ihres Platzes in der Welt beraubt, abermals stellen die Falschen die
Schuldfrage, abermals darf gedemütigt werden unter den Vorzeichen
hemmungsloser materialistischer Ideologie. Büchner und mit ihm Plagens
gehen daran, das wirre Knäuel menschlicher Triebmotive zu entflechten und
tun damit genau das, was propagandistisch unterschlagen wird in den tagtäglichen
Meldungen von Gräuel und Gewalt. Woyzeck, heißt es im Werkstattbühnen-Programm,
wird seine Liebe töten, weil er muss. An der Schuldfrage ist letztlich
nicht vorbeizukommen, wobei sie noch viel komplexer und verwirrender ausfällt
als es das Schlussbild, Zynismus in Vollendung, suggeriert.
Pat Christ © Fränkische Nachrichten –
08.12.2004
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