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  08.12.2004
 

Hatz in seelischen Ausnahmezustand

Fesselnde Woyzeck-Interpretation in der Würzburger Werkstattbühne

Ein Mensch, gefangen in sich, ein armer Mensch, ein einfacher Soldat, ein Nur-Noch-Erbsenfresser, ein gebeutelter, gedemütigter Mensch Selbstbeschränktheit statt Entfaltung, gefährliche Verinnerlichung, Wahnanwandlungen in dem beunruhigenden Gefühl, die ganze Welt hat sich gegen einen verschworen.

Momente klarer, vernünftiger Einsichten in das Absurde, das Kranke des Menschseins konkurrieren mit fixen Ideen, aufgedeckte Wahrheit wird aufgesogen von schleichendem Realitätsverlust. Da ist einer, der die Abgründigkeit erkennt, ohne Chance, dem eigenen Abgrund zu entrinnen. In einer auf Äußerste verdichteten Inszenierung, die sich stets dann von Georg Büchners Vorlage entfernt, wenn Hier und Heute in die Bühnenwelt hineinzuholen ist, gelingt Regisseur Manfred Plagens und Hauptdarsteller Alexander Blühm in der Würzburger Werkstattbühne eine fesselnde Interpretation des Woyzeck. Reduzierte Gestik statt Rhetorik, verhaltenes Mienenspiel, unaufdringliche Andeutungen statt Radikalkritik. In den stärksten Momenten von Plagens Inszenierung steht Blühm in unheimlicher Ruhe einfach nur da; blickt; allein die Finger zucken nervös. Woyzecks äußere Ruhe, seine Versteinerung, Vereisung, kontrastieren zu dem Sturm, der in ihm entfesselt wird.

Ausgerechnet seine Jäger, allen voran sein Vorgesetzter, der Hauptmann (Wolfgang Stenglin gefällt in seiner Ausdeutung der Hauptmann-Figur als Pseudophilanthrop), werfen ihm Verhetztheit vor, verstärken seine selbstzerstörerischen Skrupel. Ausgerechnet die, die vorgeben, Wissenschaft zu betreiben zum Wohle der Menschheit, ergötzen sich an der seelischen Krise ihres entwürdigten Versuchsobjekts, treiben einen, der sich nicht einmal dagegen wehren kann, auf Befehl mit den Ohren zu zucken, immer weiter in den psychischen Ausnahmezustand hinein. Irgendwann gibt es keine Möglichkeit mehr, zu entfliehen. Die Gitterstäbe sind zu eng und zu stark. Der endogene wie der exogene Wahnsinn werden zu nicht mehr bewältigbaren, Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auslösenden Triebfaktoren.

Und dann die Geliebte, ebenfalls eine Zeitgeistige, entflammt von allem, was mehr Schein ist als Sein. Und doch, auch sie ist, dies stellt Carolin Wörz als mal leichtfertige Dirne, dann wieder moralisch gebeutelte Jesusanhängerin mit Sehnsucht nach höheren Idealen eindrucksvoll heraus, lediglich Opfer. Wenn eine nichts zu erwarten hat, wenn eine nicht weiß, was morgen kommt, wie sollte sie dann nicht abfahren auf einen stattlichen Mann, der, wenn auch keine Liebe, Machtzuwachs und Bedeutungsanreicherung verheißt.

Trotz Anachronismen wie Diktiergerät, Kunststoffurinröhrchen und Glamour-Gürtelschnalle: nirgends ein gewaltsames Hereinholen gefährlicher jetziger Zeitumstände, und doch ist zwischen den einzelnen Sequenzen herauszuspüren hier geht es um mehr als um eine lediglich entfernte Verwandtschaft zwischen sozialen Entwicklungen zu Büchners Zeiten und sozialreformerischen Bestrebungen heute und hier. Woyzeck ist weder ein bemerkenswerter historischer noch ein interessanter künstlerischer Fall, Woyzeck ist längst zurückgekehrt, ist wieder oder: noch immer aktuell. Denn abermals werden Menschen entrechtet und Opfer globalen Flexibilitätswahns - ihres Platzes in der Welt beraubt, abermals stellen die Falschen die Schuldfrage, abermals darf gedemütigt werden unter den Vorzeichen hemmungsloser materialistischer Ideologie. Büchner und mit ihm Plagens gehen daran, das wirre Knäuel menschlicher Triebmotive zu entflechten und tun damit genau das, was propagandistisch unterschlagen wird in den tagtäglichen Meldungen von Gräuel und Gewalt. Woyzeck, heißt es im Werkstattbühnen-Programm, wird seine Liebe töten, weil er muss. An der Schuldfrage ist letztlich nicht vorbeizukommen, wobei sie noch viel komplexer und verwirrender ausfällt als es das Schlussbild, Zynismus in Vollendung, suggeriert.

Pat Christ © Fränkische Nachrichten   –   08.12.2004

 

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